- Pilgerwesen: Die Anziehungskraft von Wallfahrtsorten
- Pilgerwesen: Die Anziehungskraft von WallfahrtsortenViele Religionen kennen »heilige Orte«, deren Besuch mit dem Erwerb besonderer Gnadengaben verbunden ist. So gilt Jerusalem Juden, Christen und Muslimen gleichermaßen - wenn auch aus verschiedenen Gründen - als heilige Stadt. Die Evangelien schildern Jesus als Tempelpilger, der zur Passahfeier wie selbstverständlich nach Jerusalem zog, und auch die judenchristliche Urgemeinde hielt zunächst am Tempelkult fest. Erst nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. und mit der allmählichen Loslösung vom Judentum gewann die Pilgerfahrt ins Heilige Land einen ausgeprägten. Christus-Bezug. Auf den »Spuren des Herrn« wandelnd, bereiste man die Stätten seiner Geburt, seines Todes und seiner Auferstehung. Die legendäre Kreuzauffindung durch Helena, die Mutter Kaiser Konstantins des Großen (306-337), verschaffte Jerusalem eine Reliquie von kaum überbietbarer Anziehungskraft. Noch unter Konstantin entstanden Wallfahrtskirchen, die an die wichtigsten Stationen des Erdenwegs Jesu erinnerten.Auch nachdem Jerusalem 638 von islamischen Truppen erobert worden war, riss der Pilgerstrom nicht ab. Die immer wieder aufbrechende Furcht vor dem nahen Weltende veranlasste viele, sich an jenem Ort zu versammeln, an dem man die Wiederkunft Christi erwartete. Das vielleicht spektakulärste Unternehmen dieser Art war die große Pilgerfahrt der Jahre1064 und 1065. 1065 fiel der Ostertermin auf den 27. März, den man traditionsgemäß für den »wahren« Auferstehungstag hielt. Der kalendarische Zufall war für Tausende Grund genug, sich auf den Weg nach Jerusalem zu machen. Im islamischen Machtbereich kam es wiederholt zu Überfällen arabischer Räuberbanden. Nicht alle Pilger waren bereit, zur Selbstverteidigung zu Waffen zu greifen. Die Diskussion, ob während der Pilgerfahrt Notwehr erlaubt sei, gehört bereits in die Vorgeschichte des Kreuzzugsgedankens. Als Papst Urban II. 1095 zur Rückeroberung des Heiligen Landes aufrief, rechtfertigte er die Gewaltanwendung mit einem ausdrücklichen Hinweis auf die Leiden wehrloser Pilger.Neben Jerusalem entwickelte sich Rom, seit Neros Christenverfolgung Schauplatz zahlreicher Martyrien, schon früh zu einem bevorzugten Pilgerziel. Nach alter Überlieferung hatten dort Petrus und Paulus, die beiden Apostelfürsten, den Tod gefunden, und gerade Petrus zählte zu den Lieblingsheiligen der christianisierten Germanenvölker. Im 7. und 8. Jahrhundert war diese Vorliebe besonders in England verbreitet; mehrere angelsächsische Könige legten ihr Amt nieder, um ihren Lebensabend in der Nähe des Petrusgrabs zu verbringen.Ein weiterer bedeutender Wallfahrtsort blühte im 9. Jahrhundert auf, nachdem man im Nordwesten Spaniens das Grab des Apostels Jakobus des Älteren entdeckt hatte. Schon bald zog Santiago (= Sankt Jakob) de Compostela Pilger von jenseits der Pyrenäen an, und seit dem 12. Jahrhundert war die Santiago-Wallfahrt eine der wichtigsten des Abendlands. Auf einer speziellen Route, dem Jakobsweg, gelangten die Pilger an ihr Ziel. Für ihre Bequemlichkeit wurde mit beträchtlichem Aufwand gesorgt; Herbergen, Hospize und Spitäler säumten die gut befestigten Straßen. Dennoch war im Mittelalter der Reisende stets mancherlei Gefahren ausgesetzt. Vielerorts kursierte die Mär von dem Knaben, der mit seinen Eltern nach Santiago reiste und den ein betrügerischer Gastwirt bezichtigte, einen Silberbecher gestohlen zu haben. Der zuständige Richter glaubte dem Wirt und ließ den Knaben aufhängen. Aber der heilige Jakobus hatte Erbarmen: 36 Tage lang stützte er den Unschuldigen unter dem Galgen, sodass ihm die Schlinge nichts anhaben konnte. Durch das Wunder überzeugt, sollen die Einheimischen den unversehrten Knaben vom Galgen abgenommen und statt seiner den Wirt gehenkt haben. Nicht immer konnten die Heiligen die Sicherheit ihrer Verehrer gewährleisten. Deshalb standen die Pilger unter dem besonderen Schutz der weltlichen wie der geistlichen Macht. Wer sich an ihnen vergriff, musste mit strengster Bestrafung rechnen.Die Motive, sich den Beschwerlichkeiten einer Wallfahrt auszusetzen, waren verschiedenster Art. Nicht selten handelte es sich um die Erfüllung eines Gelübdes, das man bei schwerer Erkrankung oder in einer Notsituation abgelegt hatte. Manche Pilger gingen auf eine Wallfahrt als Buße für ein Verbrechen. Vor allem bei Totschlagsdelikten wurde dem Täter häufig eine »Sühnewallfahrt« auferlegt. Sie diente freilich nicht dem eigenen Seelenheil, sondern dem des Opfers, das unvorbereitet aus dem Leben geschieden war. Im späteren Mittelalter steigerten Ablassverleihungen die Attraktivität der Wallfahrtsorte. Nach damaliger Anschauung bewirkte der Ablass zwar nicht die Vergebung der Sünden, er tilgte aber Sündenstrafen und konnte daher die Leidenszeit verkürzen, die den Verstorbenen im Fegfeuer erwartete.Mit dem inflationären Angebot an Ablässen ging eine umfassende Kommerzialisierung des Pilgerwesens einher. Die Verpflichtung zur Wallfahrt konnte durch eine Geldspende oder gar durch die Entsendung eines gemieteten Stellvertreters abgegolten werden. Religiöse Motive traten in den Hintergrund, manche Pilgerfahrt glich eher einer Bildungsreise. Den gewandelten Zielsetzungen entsprechend, beschreiben die Pilgerführer des 15. Jahrhunderts neben den heiligen Stätten zunehmend auch profane Sehenswürdigkeiten. Wie unterhaltsam es auf einer Wallfahrt zugehen konnte, hat im 14. Jahrhundert der englische Dichter Geoffrey Chaucer in seinen literarisch bedeutenden »Canterbury Tales« gezeigt: Eine bunt gemischte Pilgergruppe ist auf dem Weg nach Canterbury, wo der heilige Thomas Becket, der Erzbischof von Canterbury, der 1170 während einer Messe erstochen wurde, begraben liegt. Zum Zeitvertreib erzählt man sich Geschichten, die teils recht unfrommen Inhalts sind. Auch wenn sich gegen Ende des Mittelalters die Klagen über Veräußerlichung und Sinnentleerung häuften: Kritik am Verhalten der Pilger hat es zu allen Zeiten gegeben. Schon der Kirchenvater Hieronymus, der selbst seine letzten Lebensjahre in Palästina verbrachte, stellte im 5. Jahrhundert mahnend fest: »Nicht in Jerusalem gewesen zu sein, sondern in Jerusalem rechtschaffen gelebt zu haben, ist lobenswert.« Und im 13. Jahrhundert riet der Volksprediger Berthold von Regensburg seinen Zuhörern, lieber im eigenen Dorf die Messe zu besuchen, als unnötig in die Ferne zu schweifen: »In einer einzigen Messe kannst du mehr Gnaden erlangen, als wenn du nach Compostela und zurück läufst. Denn was findest du in Compostela? Das Haupt von Sankt Jakobus. Das ist viel wert: Es ist ein toter Schädel, der bessere Teil ist im Himmel.«Dr. Michael OberweisFrank, Isnard Wilhelm: Kirchengeschichte des Mittelalters. Düsseldorf 31994.Geschichte der katholischen Kirche, herausgegeben vonJosef Lenzenweger u. a. Graz u. a. 31995.Southern, Richard W.: Kirche und Gesellschaft im Abendland des Mittelalters. Aus dem Englischen. Berlin u. a. 1976.
Universal-Lexikon. 2012.